Donnerstag, 22. Dezember 2016

Das große Treffen - eine Weihnachtsgeschichte



Wie jedes Jahr fanden sich die Buchstaben des Alphabets zum großen Familientreffen zusammen, um den Heiligen Abend und Weihnachten zu feiern.

Bildquelle: S.Hofschlaeger/pixelio.de

Dieses Stelldichein hatte inzwischen Tradition und jeder war natürlich bemüht, sich für dieses große Fest besonders herauszuputzen. Dieses Mal hatte der Präsident auf eine schöne Berghütte geladen.

Der Präsident war "A". "A" hatte sich Anfang des Jahres in dieses Amt wählen lassen. Er fand es nur angemessen, ja geradezu seiner würdig , dass er, als erster Buchstaben in der Aufzählung der Reihe der 26, den Vorsitz hatte. 

Viele hatten "Z" auf dem Posten sehen wollen, weil ihrer Meinung nach mal frischer Wind in die angestaubte Hierarchie wehen sollte... und was lag da näher, als dafür den letzten Buchstaben vorzuschlagen. Doch "A" hatte mit seinem Team, den Eigenlauten, einen harten Wahlkampf geführt und sich schließlich durchgesetzt.

Seit seinem Amtsantritt hatte "A" nun arrogant und in jeder seiner Handlungen Anerkennung suchend, das Regiment mit harter Hand geführt, was natürlich nicht zu seiner Beliebtheit beigetragen hatte.

Ganz besonders "I" hatte unter seinen ständigen Beleidigungen und Schmähungen leiden müssen, weshalb "I" nun auch überhaupt keine Lust verspürte, dem Familientreffen beizuwohnen. Ganz im Gegenteil , "I" hätte vieles darum gegeben, besagten Tag sonst wo verbringen zu können.

Es war vor allem "G", mit seiner Geduld und Gutmütigkeit, "V" mit vertrauensvollem und schlussendlich "Z" mit gutem Zureden, zu verdanken, dass "I" nun doch zugesagt hatte.

Doch sein Unbehagen blieb... Denn viele der Anfeindungen von "A" trafen ihn sehr: natürlich war er schmächtig und dürr. Er hatte mangels Muskelmaße kaum Kraft, um irgendwelche schweren Lasten zu tragen, wie zum Beispiel "D" und ganz besonders "F" mit seinen Fangarmen konnten. Besonders schmerzte ihn aber, dass er meistens nicht auffiel, als Strich in der Landschaft der er nun mal war. Da half auch der Punkt nichts, den er manchmal kess über sein Haupt trug... besonders wenn es nicht so förmlich zuging.

Aber "I" hatte es nun mal versprochen, und so machte er sich, nicht ohne von Selbstzweifel geplagt zu sein, auf dem Weg zum Treffpunkt.

Den hatte "A" auf dem Markplatz festgelegt, in der Mitte eines malerischen Dorfes in den Schweizer Alpen. Von hier aus wollten Sie den langen und steilen Anstieg zu der Hütte angehen, wo das diesjährige Treffen stattfinden sollte. Das war auch der Grund dafür gewesen, dass es schon am frühen Nachmittag losgehen sollte.

"I" war nicht der Erste vor Ort. Die dicke "B" hatte sich bereits mit ihrem genau so fülligen Mann "D" eingefunden. Ihre Kinder "O" und "Q", auch eher Rubensstaturen, zanken sich wie gewöhnlich um irgendeine Sache, die sie natürlich unbedingt beide gleichzeitig  haben mussten. Obwohl "O" in ihrer zickigen Art meist keinen Grund brauchen, um mit ihrem Bruder einen Streit vom Zaun zu brechen...

Etwas abseits standen der schüchterne "S" im Gespräch mit "M" und "N", beider für ihre harmonisierenden und verbindenden Fähigkeiten bekannt. Zu ihnen gesellte sich kurzerhand noch "T", der seinem Namen mit seinen breiten, kräftigen Schultern alle Ehre machte.

Nach und nach trudelten sie alle ein; kaum einer von ihnen beachtete "I", der sich still unter dem Baum zurückgezogen hatte, der in der Mitte des Platzes hoch in den Himmel ragte. Im Sommer würde er wahrscheinlich angenehmen Schatten spenden, doch jetzt im Winter stand er nur kahl da, wie ein gespenstiges Gerippe.

Wie nicht anders zu erwarten erschien "A" als letzter, gerade noch pünktlich zur vereinbarten Zeit, sich der Wirkung seines Auftritts gewiss. Er sah aus wie ein Pfau in seinen bunten Winterklamotten, die natürlich dem neuesten Schrei entsprachen. Dicht gefolgt wurde er vom eitlen "E", der ihm in seiner Aufmachung kaum nachstand.

Einem Außenstehendem wären schnell die Präferenzen der einzelnen Teilnehmer aufgefallen, denn sofort versammelten sich einige um "A" und hörten gespannt, ja fast bewundernd seinen lautstarken Ausführungen zu. Andere drehten sich nur verschämt ab.

Dennoch herrschte gute Laune in der Gruppe, nicht zuletzt durch die strahlenden Sonne, die hoch oben vom blauen Himmel schien und den Dorfplatz in warmes Licht tauchte.

Nach einer kurzen Einweisung, in der es sich "A" nicht nehmen lies, seine Vormachtposition herauszustellen, brach die Gruppe in freudiger Erwartung der bevorstehenden Feier, und mit lockerem Geplauder zum langen Aufstieg auf. Lediglich "I" schlenderte in kurzem Abstand, still und alleine, hinter ihnen her.

Nach einer Weile wurde es allerdings immer stiller, und das Gemurmel wich eher angestrengtem Ein- und Ausatmen, als der Weg zur Hütte immer steiler anstieg und von den Teilnehmern immer mehr Kraft und Konzentration forderte. Besonders die dicke "B" und ihre Familie zahlten nun ihren Preis für ihre Leibesfülle. 

Gegen 15.00 Uhr - Sie hatten inzwischen ungefähr den halben Weg hinter sich gebracht - verschwand die Sonne hinter den Berggipfeln. Es wurde merklich kühler und die Kälte kroch ihnen trotz der körperlichen Anstrengung langsam in die Glieder. Vereinzelt konnte man nun auch Beschwerden und Verärgerungen vernehmen, ob der langen und scheinbar nicht enden wollenden Wanderung. Manche ließen ihrem Unmut sogar freien Lauf und luden ihren Frust bei "A" ab.

Letzterer gab sich zwar Mühe zu beschwichtigen, hatte aber selbst zu kämpfen. 

Nur "I" marschierte beschwingt weiter. Pfeifen oder Gesang, nach dem ihm eigentlich zu Mute war, verkniff er sich allerdings. Wie meistens wollte er nicht aus der Rolle fallen und schon gar nicht den Groll der anderen auf sich ziehen.

Doch als sich nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsch der Himmel plötzlich zuzog und das Wetter, wie es in den Bergen häufig passiert, binnen ein paar Minuten umschwenkte, wurde auch "I" zunehmend nervöser.

Bald fing es an zu schneien und der Himmel nahm eine bedrohliche dunkelgraue Farbe an. Ein eisiger Wind blies ihnen die schweren und nassen Flocken ins Gesicht, tausendfacher kleiner und schmerzhafter Nadelstiche gleich. Es verstrichen kaum ein paar Minuten, als bereits die ersten in Tränen ausbrachen und ihre Lage immer prekärer wurde.

Alle schrien nach "A", er möge doch etwas tun, dafür sorgen, dass sie heil und wohlbehalten die Hütte erreichten. Doch von "A" war nichts mehr zu hören; ganz im Gegenteil, er hatte sich selbst zitternd und heulend hinter einem Felsen am Wegesrand gekauert und starrte apathisch vor sich hin. Als dann noch die ersten Buchstaben ausrutschen und hinfielen und die dicke "B" sich schwer verletzte, entglitt die Lage vollends und wich einer allgemeinen Panik.

Lediglich "I" behielt einen kühlen Kopf und ergriff die Initiative. Schnell holte er "M" und "N" herbei, die sich zu einer Trage verbanden, forderte den kräftigen "T" auf, "B" darauf zu heben und gab "S" und "Z" die Order, mit ihren wie Kufen geformten Gliedmaßen, den Weg für einen leichteren Transport freizumachen.

Schnell schöpften die Buchstaden, angesichts der beherzten Führung von "I", neuen Mut und scharrten sich um ihn. Sogar diejenigen, die bisher nur die Gesellschaft von "A" gesucht hatten, wie Motten das Licht, folgten ihm jetzt bereitwilligt, verhieß "I" ihnen doch die Zuversicht und die Sicherheit, nach denen sie sich sehnten.

Als er sah, dass sich die Lage beruhigt hatte, übergab "I" die Führung der Gruppe an "Z" weiter und beschloss, sich alleine auf dem Weg zur Hütte zu machen, um von dort Hilfe anzufordern.

Durch seine drahtige Figur dem Wind kaum Widerstand bietend, kam "I" sehr schnell voran und erreichte alsbald das Ziel. Schnell war Hilfe organisiert und so kam es, dass nach einer guten Stunde sich alle an einem warmen Kaminfeuer wärmen konnte, so als wäre nichts geschehen.

Nichts geschehen?

In der Tat, wenn man sie alle da hocken sah, mit rosigen Bäckchen und jetzt auch wieder fröhlich und lachend, konnte dieser Eindruck entstehen.

Nur für einen war etwas geschehen, hatte sich etwas verändert...

Denn "I", den bisher kaum einer beachtet hatte, war nun zu ihrem Held, ihrem Retter geworden... Alle kamen und klopften ihm auf die Schulter, umarmten und herzten ihn...
Sie feierten ausgelassen bis  in die frühen Morgenstunden...

Und die Moral von der Geschicht´?

Unterschätze niemals die Fähigkeiten anderer und Deine eigenen, lasse Dich nicht von Zweifel aufhalten. Akzeptiere Dein Anderssein als eine Besonderheit, eine Gabe, die irgendwo, irgendwann genau diejenige ist, die gebraucht wird.

ANDERS sein ist eben nicht FALSCH, sondern nur ANDERS!

In diesem Sinne, frohe Weihnachten! 

André Leyens
 
Bildquelle: gänseblümchen  / pixelio.de