Wie jedes
Jahr fanden sich die Buchstaben des Alphabets zum großen Familientreffen
zusammen, um den Heiligen Abend und Weihnachten zu feiern.
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Dieses
Stelldichein hatte inzwischen Tradition und jeder war natürlich bemüht, sich
für dieses große Fest besonders herauszuputzen. Dieses Mal hatte der Präsident
auf eine schöne Berghütte geladen.
Der Präsident
war "A". "A" hatte sich Anfang des Jahres in
dieses Amt wählen lassen. Er fand es nur angemessen, ja geradezu seiner würdig
, dass er, als erster Buchstaben in der Aufzählung der Reihe der 26, den
Vorsitz hatte.
Viele hatten
"Z" auf dem Posten sehen
wollen, weil ihrer Meinung nach mal frischer Wind in die angestaubte Hierarchie
wehen sollte... und was lag da näher, als dafür den letzten Buchstaben
vorzuschlagen. Doch "A" hatte mit seinem Team, den Eigenlauten, einen
harten Wahlkampf geführt und sich schließlich durchgesetzt.
Seit seinem
Amtsantritt hatte "A" nun arrogant und in jeder seiner Handlungen
Anerkennung suchend, das Regiment
mit harter Hand geführt, was natürlich nicht zu seiner Beliebtheit beigetragen
hatte.
Ganz
besonders "I" hatte unter
seinen ständigen Beleidigungen und Schmähungen leiden müssen, weshalb "I" nun auch überhaupt keine Lust
verspürte, dem Familientreffen beizuwohnen. Ganz im Gegenteil , "I" hätte vieles darum gegeben,
besagten Tag sonst wo verbringen zu können.
Es war vor
allem "G", mit seiner Geduld und Gutmütigkeit, "V"
mit vertrauensvollem und
schlussendlich "Z" mit
gutem Zureden, zu verdanken, dass
"I" nun doch zugesagt
hatte.
Doch sein
Unbehagen blieb... Denn viele der Anfeindungen von "A" trafen ihn sehr: natürlich war er schmächtig und dürr. Er
hatte mangels Muskelmaße kaum Kraft, um irgendwelche schweren Lasten zu tragen,
wie zum Beispiel "D" und
ganz besonders "F" mit
seinen Fangarmen konnten. Besonders schmerzte ihn aber, dass er meistens nicht
auffiel, als Strich in der Landschaft der er nun mal war. Da half auch der
Punkt nichts, den er manchmal kess über sein Haupt trug... besonders wenn es
nicht so förmlich zuging.
Aber
"I" hatte es nun mal versprochen, und so machte er sich, nicht ohne
von Selbstzweifel geplagt zu sein, auf dem Weg zum Treffpunkt.
Den hatte
"A" auf dem Markplatz
festgelegt, in der Mitte eines malerischen Dorfes in den Schweizer Alpen. Von
hier aus wollten Sie den langen und steilen Anstieg zu der Hütte angehen, wo
das diesjährige Treffen stattfinden sollte. Das war auch der Grund dafür
gewesen, dass es schon am frühen Nachmittag losgehen sollte.
"I" war nicht der Erste vor Ort.
Die dicke "B" hatte sich
bereits mit ihrem genau so fülligen Mann "D" eingefunden. Ihre Kinder "O" und "Q",
auch eher Rubensstaturen, zanken sich wie gewöhnlich um irgendeine Sache, die
sie natürlich unbedingt beide gleichzeitig haben mussten. Obwohl "O" in ihrer zickigen Art meist
keinen Grund brauchen, um mit ihrem Bruder einen Streit vom Zaun zu brechen...
Etwas abseits
standen der schüchterne "S"
im Gespräch mit "M" und
"N", beider für ihre
harmonisierenden und verbindenden Fähigkeiten bekannt. Zu ihnen gesellte sich
kurzerhand noch "T", der
seinem Namen mit seinen breiten, kräftigen Schultern alle Ehre machte.
Nach und nach
trudelten sie alle ein; kaum einer von ihnen beachtete "I", der sich still unter dem Baum
zurückgezogen hatte, der in der Mitte des Platzes hoch in den Himmel ragte. Im
Sommer würde er wahrscheinlich angenehmen Schatten spenden, doch jetzt im
Winter stand er nur kahl da, wie ein gespenstiges Gerippe.
Wie nicht anders
zu erwarten erschien "A"
als letzter, gerade noch pünktlich zur vereinbarten Zeit, sich der Wirkung
seines Auftritts gewiss. Er sah aus wie ein Pfau in seinen bunten
Winterklamotten, die natürlich dem neuesten Schrei entsprachen. Dicht gefolgt
wurde er vom eitlen "E",
der ihm in seiner Aufmachung kaum nachstand.
Einem
Außenstehendem wären schnell die Präferenzen der einzelnen Teilnehmer
aufgefallen, denn sofort versammelten sich einige um "A" und hörten gespannt, ja fast bewundernd seinen lautstarken Ausführungen
zu. Andere drehten sich nur verschämt ab.
Dennoch
herrschte gute Laune in der Gruppe, nicht zuletzt durch die strahlenden Sonne,
die hoch oben vom blauen Himmel schien und den Dorfplatz in warmes Licht
tauchte.
Nach einer
kurzen Einweisung, in der es sich "A"
nicht nehmen lies, seine Vormachtposition herauszustellen, brach die Gruppe in
freudiger Erwartung der bevorstehenden Feier, und mit lockerem Geplauder zum
langen Aufstieg auf. Lediglich "I"
schlenderte in kurzem Abstand, still und alleine, hinter ihnen her.
Nach einer
Weile wurde es allerdings immer stiller, und das Gemurmel wich eher
angestrengtem Ein- und Ausatmen, als der Weg zur Hütte immer steiler anstieg
und von den Teilnehmern immer mehr Kraft und Konzentration forderte. Besonders
die dicke "B" und ihre
Familie zahlten nun ihren Preis für ihre Leibesfülle.
Gegen 15.00
Uhr - Sie hatten inzwischen ungefähr den halben Weg hinter sich gebracht -
verschwand die Sonne hinter den Berggipfeln. Es wurde merklich kühler und die
Kälte kroch ihnen trotz der körperlichen Anstrengung langsam in die Glieder.
Vereinzelt konnte man nun auch Beschwerden und Verärgerungen vernehmen, ob der
langen und scheinbar nicht enden wollenden Wanderung. Manche ließen ihrem Unmut
sogar freien Lauf und luden ihren Frust bei "A" ab.
Letzterer gab
sich zwar Mühe zu beschwichtigen, hatte aber selbst zu kämpfen.
Nur "I" marschierte beschwingt weiter.
Pfeifen oder Gesang, nach dem ihm eigentlich zu Mute war, verkniff er sich
allerdings. Wie meistens wollte er nicht aus der Rolle fallen und schon gar
nicht den Groll der anderen auf sich ziehen.
Doch als sich
nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsch der Himmel plötzlich zuzog und das
Wetter, wie es in den Bergen häufig passiert, binnen ein paar Minuten
umschwenkte, wurde auch "I"
zunehmend nervöser.
Bald fing es
an zu schneien und der Himmel nahm eine bedrohliche dunkelgraue Farbe an. Ein
eisiger Wind blies ihnen die schweren und nassen Flocken ins Gesicht,
tausendfacher kleiner und schmerzhafter Nadelstiche gleich. Es verstrichen kaum
ein paar Minuten, als bereits die ersten in Tränen ausbrachen und ihre Lage
immer prekärer wurde.
Alle schrien
nach "A", er möge doch
etwas tun, dafür sorgen, dass sie heil und wohlbehalten die Hütte erreichten.
Doch von "A" war nichts
mehr zu hören; ganz im Gegenteil, er hatte sich selbst zitternd und heulend
hinter einem Felsen am Wegesrand gekauert und starrte apathisch vor sich hin.
Als dann noch die ersten Buchstaben ausrutschen und hinfielen und die dicke
"B" sich schwer verletzte,
entglitt die Lage vollends und wich einer allgemeinen Panik.
Lediglich
"I" behielt einen kühlen Kopf und ergriff die Initiative. Schnell
holte er "M" und "N" herbei, die sich zu einer Trage
verbanden, forderte den kräftigen "T"
auf, "B" darauf zu heben
und gab "S" und "Z" die Order, mit ihren wie Kufen
geformten Gliedmaßen, den Weg für einen leichteren Transport freizumachen.
Schnell
schöpften die Buchstaden, angesichts der beherzten Führung von "I", neuen Mut und scharrten sich
um ihn. Sogar diejenigen, die bisher nur die Gesellschaft von "A" gesucht hatten, wie Motten das
Licht, folgten ihm jetzt bereitwilligt, verhieß "I" ihnen doch die Zuversicht und die Sicherheit, nach denen
sie sich sehnten.
Als er sah, dass
sich die Lage beruhigt hatte, übergab "I" die Führung der Gruppe an "Z" weiter und beschloss, sich alleine auf dem Weg zur Hütte zu
machen, um von dort Hilfe anzufordern.
Durch seine
drahtige Figur dem Wind kaum Widerstand bietend, kam "I" sehr schnell voran und erreichte alsbald das Ziel. Schnell
war Hilfe organisiert und so kam es, dass nach einer guten Stunde sich alle an
einem warmen Kaminfeuer wärmen konnte, so als wäre nichts geschehen.
Nichts
geschehen?
In der Tat,
wenn man sie alle da hocken sah, mit rosigen Bäckchen und jetzt auch wieder
fröhlich und lachend, konnte dieser Eindruck entstehen.
Nur für einen
war etwas geschehen, hatte sich etwas verändert...
Denn "I", den bisher kaum einer beachtet
hatte, war nun zu ihrem Held, ihrem Retter geworden... Alle kamen und klopften
ihm auf die Schulter, umarmten und herzten ihn...
Sie feierten
ausgelassen bis in die frühen
Morgenstunden...
Und die Moral
von der Geschicht´?
Unterschätze
niemals die Fähigkeiten anderer und Deine eigenen, lasse Dich nicht von Zweifel
aufhalten. Akzeptiere Dein Anderssein als eine Besonderheit, eine Gabe, die
irgendwo, irgendwann genau diejenige ist, die gebraucht wird.
ANDERS sein ist eben nicht FALSCH, sondern nur ANDERS!
In diesem
Sinne, frohe Weihnachten!
André Leyens
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